Schlafwandelnd in die nächste Migrationskrise: Der Anstieg der illegalen Grenzübertritte macht die EU nervös

Daniel Steinvorth, Brüssel 25.11.2022, 19.50 Uhr

Die Zahl der Migranten, die über das Mittelmeer in die EU kommen, ist stark gestiegen. Dagegen sträubt sich vor allem Italien. Ein Aktionsplan der Kommission soll Abhilfe schaffen. Doch von Einigkeit unter den Europäern ist keine Spur. Migranten an Bord der "Ocean Viking" (Bild vom 10. November).
AP

In Europa braut sich eine neue Krise zusammen. Auf der zentralen Mittelmeerroute versuchen derzeit doppelt so viele Migranten in die Europäische Union zu gelangen wie 2021. Über die westlichen Balkanstaaten haben sich bis September sogar fast dreimal so viele Menschen auf den Weg gemacht wie im Vorjahr. In Ländern wie Belgien und den Niederlanden kämpfen die Behörden mit überfüllten Asylzentren. Und zwischen Frankreich und Italien brach zuletzt ein heftiger Streit über die Aufnahme von Bootsflüchtlingen aus.

"Europa schlafwandelt gerade in die nächste Migrationskrise", glaubt Manfred Weber, der Chef der konservativen Europäischen Volkspartei. Löse die EU ihre Probleme an der Aussengrenze nicht, sei der grenzenlose Schengenraum in Gefahr, schrieb Weber kürzlich auf Twitter.

Kommission soll Frieden stiften

Das ist einfacher gesagt als getan, denn von einer gemeinsamen Lösung sind die Staaten weit entfernt. Wie sehr die Nerven blank liegen, zeigt die Episode um das Rettungsschiff "Ocean Viking" vor zwei Wochen: Italiens neue Rechtsaussen-Regierung hatte sich geweigert, das Schiff mit seinen rund 230 Migranten an Bord in einen italienischen Hafen einlaufen zu lassen. Die Crew der Hilfsorganisation SOS Méditerranée hatte die Menschen zuvor aus Seenot im Mittelmeer gerettet und Dutzende von Gesuchen gestellt, um in Italien oder Malta an Land zu gehen.

Am Ende erklärte sich Frankreich bereit, die Migranten aufzunehmen. Zugleich warf Paris den Italienern einen schweren Verstoss gegen internationales Recht vor, weil Rettungsschiffe berechtigt seien, in den nächstgelegenen Hafen zu fahren. Die französische Regierung revanchierte sich, indem sie ihre Zusage zurücknahm, noch in diesem Jahr 3500 Migranten von Italien aufzunehmen.

Postwendend hiess es aus Rom, dass die eigene Aufnahmekapazität erschöpft sei. Man erfahre von anderen EU-Staaten keine Solidarität, und Schiffe wie die "Ocean Viking" förderten mit ihren Einsätzen generell das Geschäft von Schlepperbanden.

Um die Lage zu beruhigen, berief Tschechien, das in der EU derzeit den Ratsvorsitz innehat, ein Sondertreffen der 27 Innenminister ein. Und auch die Kommission machte sich ans Werk und erarbeitete auf Druck Italiens eilig einen Aktionsplan für die Mittelmeerroute. Doch weil es so schnell gehen musste, wärmte die Brüsseler Behörde nach Einschätzung von Diplomaten bloss eine Reihe alter Vorschläge auf.

Der Aktionsplan sieht vor, die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Durchreiseländern zu intensivieren und in Nordafrika ein neues Programm gegen Menschenschmuggel zu starten. Europas Grenzschutzagentur Frontex soll verstärkt mit Transitländern wie Libyen und Niger zusammenarbeiten. Zudem soll an einem neuen Rechtsrahmen für den Einsatz von Rettungsschiffen gearbeitet werden. Und schliesslich soll ein "Solidaritätsmechanismus" in Kraft treten, der es ermöglicht, freiwillig den Mittelmeerstaaten Migranten abzunehmen oder diese Länder anderweitig zu unterstützen.

All diese Punkte sind Teil eines Asyl- und Migrationspakts, den die Kommission bereits Ende 2020 präsentierte. Er kommt jedoch bis anhin kaum vom Fleck, weil die migrationspolitischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten weit auseinanderklaffen.

Ylva Johansson, die Flüchtlingskommissarin der EU, räumte dies auch ein, als sie zu Wochenbeginn den Aktionsplan vorstellte und über den Anstieg der Migrationszahlen berichtete. Sie erklärte, dass - trotz der deklarierten Solidarität - bisher nur rund hundert Migranten aus Ankunftsländern wie Italien oder Griechenland Aufnahme in anderen EU-Staaten gefunden hätten. Zu Jahresbeginn hatte es Zusagen für die Umverteilung von 8000 Migranten gegeben.

Nur wenige politisch Verfolgte

Beim Thema Seenotrettung hatte Johansson Schwierigkeiten, klare Aussagen zu machen. Es gebe eine "rechtliche Verpflichtung, Leben zu retten", betonte die Schwedin. Es sei auch notwendig, dass alle beteiligten Akteure bei den Rettungseinsätzen kooperierten. Gleichwohl würden nur die wenigsten über das Mittelmeer Ankommenden wegen politischer Verfolgung ihre Heimat verlassen. "Wir müssen bedenken, dass eine deutliche Mehrheit der Menschen, die heute über diese zentrale Mittelmeerroute ankommen, keinen internationalen Schutz braucht", sagte Johansson.

Es ist jedoch längst nicht nur das Mittelmeer, das den Europäern Sorge bereitet. Österreichs Innenminister Gerhard Karner und seine Amtskollegen aus den Visegrad-Staaten hatten im Vorfeld des Sondertreffens in Brüssel gefordert, auch den Migrationsbewegungen auf dem Balkan mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Allein für den Monat Oktober hatte Frontex 22.300 irreguläre Grenzübertritte auf der westlichen Balkanroute gezählt, dreimal so viel wie vor einem Jahr.

Niemand hatte ernsthaft erwartet, dass es bei dem Treffen zu mehr als einem Meinungsaustausch reichen würde. Man werde "kontinuierlich" am "Aufbau eines widerstandsfähigeren Migrations- und Asylsystem" arbeiten, berichtete Tschechiens Innenminister Vit Rakusan am Freitagabend. Auch im Streit zwischen Paris und Rom sah es düster aus. Man werde dabei bleiben, erklärte der französische Innenminister Gérald Darmanin, die zugesagten Migranten aus Italien erst zu übernehmen, sobald Rom seine Häfen für Rettungsschiffe öffne.


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